Radikal wie Jesus

Türen öffnen und religiöse Mauern einreißen

Jesus ist nicht der religiöse Schwächling unserer Vorstellung. Nicht der affektierte Gefühlsmensch unserer schönen Bilder. Sondern der Christus: bestimmt in seinem Auftreten, herausfordernd in seiner Botschaft, überzeugend in seiner Männlichkeit, fesselnd in seiner Mission – der revolutionäre Christus!“ H. S. Vigeveno in: „Jesus the Revolutionary“.


Was würde sich ändern, wenn der auferstandene Herr in seiner ganzen Kraft durch uns wirken könnte? Jesus Christus hat zu seiner Zeit religiöse und gesellschaftliche Schranken gesprengt, indem er zeigte, wie radikal Gottes Liebe zu den Menschen ist. Im Judentum war das Prinzip der Abgrenzung tief verankert und führte zu einem ausgeprägten „Wir und die Anderen“-Gefühl. Diese Absonderung hatte ihren Sinn, denn aus diesem Volk sollte der Messias kommen. Aber sie bewirkte auch, dass dazu ein Regelwerk überbetont wurde und oft der Blick für die Bedürfnisse der Menschen verloren ging.


Religion trennt, Liebe schließt ein

Auch Jesus lebte nach dem jüdischen Gesetz und kannte sich darin besser aus als alle anderen. Er war ein gehorsamer Sohn und studierte intensiv das Wort Gottes, um sich auf seinen Dienst vorzubereiten. Als er getauft wurde und der Heilige Geist auf ihn herabkam, begann sein öffentliches Wirken in tiefster Übereinstimmung mit seinem Vater. Statt sich abzusondern, wandte er sich bewusst denen zu, die bis dahin in der jüdischen Gesellschaft als „unwürdig“ galten. Er wählte ungebildete oder sogar geächtete Menschen als seine Jünger. Er teilte wichtige Einsichten über sein Reich mit Frauen, die wegen ihrer Sünden aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren. Er berührte Aussätzige und Besessene, sogar einen vier Tage alten Leichnam, um zu zeigen, dass für ihn nichts „unrein“ war, da er in Liebe handelte. Er wusste, dass nichts auf Erden ihn verunreinigen konnte. Aber für die streng religiösen Juden war dieses radikale Handeln eine Provokation! Jesus war die Liebe Gottes in Person und wollte allen Menschen die Chance auf Rettung geben. Aber wie sollten sie ihre Rettung empfangen, wenn sich niemand traute, sich ihnen zu nähern? Prostituierte, Zöllner, Ehebrecher und andere fanden in Jesus jemanden, der sich nicht scheute, auf sie zuzugehen. Seine Haltung strahlte göttliche Liebe aus, seine Worte riefen sie zur Umkehr. Sie wurden „magnetisch“ von ihm angezogen, denn zum ersten Mal sah sie jemand in ihrer Not und erlaubte sich, sie zu berühren.


Provokationen am Sabbat

Ein roter Faden im Wirken Jesu ist sein provokativer Umgang mit Heilungen am Sabbat. Sieben konkrete Begebenheiten sind in den Evangelien überliefert, und es stellt sich die Frage: Warum wollte Jesus ausgerechnet am Ruhetag heilen? Die Juden waren empört, als Jesus die seit achtzehn Jahren verkrüppelte und von Dämonen besessene Frau am Sabbat heilte. Sie kritisierten, sie sei am falschen Wochentag(!) gekommen. Jesus entlarvte ihre innere Haltung, religiöse Vorschriften über das Heil und die Heilung der Menschen zu stellen.
Allzu leicht können sich auch heute religiöse und organisatorische Rituale in die Gemeinschaften einschleichen und die Freiheit des Geistes beeinträchtigen. In einer immer hektischer werdenden Gesellschaft kann der Blick auf die Uhr oder der Wunsch nach Effizienz den Blick für die Bedürfnisse der Menschen trüben. Wie der Sabbat, so ist auch der Gottesdienst für die Menschen und für das aktuelle Wirken des Heiligen Geistes da und nicht umgekehrt! Unsere Bereitschaft, uns vom Geist Gottes unterbrechen, ja provozieren zu lassen, wird unsere Gottesdienste in ihrer Wirksamkeit aufblühen lassen, aber sie wird uns auch aus unseren Komfortzonen herauskatapultieren und religiösen Widerstand hervorrufen.


Ein radikaler Frauenversteher

„Die Mission Jesu war nicht geschlechtsspezifisch, sie war geschlechtsinklusiv.“ David Hamilton.
Jesus lehnte gesellschaftliche Konventionen ab, die die Würde des Menschen in Frage stellten, auch in Bezug auf Frauen. In Johannes 6,37 sagt Jesus: „Alle, die mir der Vater gegeben hat, werden zu mir kommen, und ich werde sie nicht abweisen noch hinausstoßen.“ Zu seinen Jüngern gehörten Frauen wie Maria Magdalena, Susanna, Johanna oder Salome, die ihn geistlich und materiell unterstützten und in Schlüsselmomenten seines Todes und seiner Auferstehung eine wichtige Rolle spielten. Er maß nicht mit zweierlei Maß, schloss niemanden aus und setzte ihrer gottgegebenen Bestimmung keine Grenzen. Dieser radikal neue Ansatz machte ihn für die Frauen seiner Zeit attraktiv, besonders für diejenigen, die von der religiösen Elite völlig abgelehnt wurden. Er besaß sogar die „Dreistigkeit“, einer fremden Frau, die im Ehebruch lebte, seinen göttlichen Auftrag zu verkünden (Joh 4). Die Jünger waren erstaunt, wagten aber nicht zu fragen, warum und worüber er mit dieser Frau am Jakobsbrunnen sprach. Vielleicht hatten seine liebevollen Augen schon alles gesagt.


Religiöse „Spurrillen“ erkennen

Auch heute können Christen bewusst oder unbewusst Türen verschließen, um möglichst wenig mit denen zu tun zu haben, die sie und ihren Lebensstil „verunreinigen“ könnten. Wo verhalten wir uns eher wie die gesetzes- und traditionsliebenden Pharisäer, die über das Verhalten Jesu empört waren? Unser Evangelium wird weitgehend für einen „Insider Club“ reserviert bleiben, wenn wir uns nicht trauen, aus unseren Türen herauszutreten und dorthin zu gehen, wo die Menschen das Evangelium am meisten brauchen. Wenn wir Jesus nachfolgen wollen, dann bedeutet das auch, dass wir bereit sein müssen, unsere Vorurteile zu hinterfragen und uns den Menschen zuzuwenden, die von der Gesellschaft oft ausgeschlossen oder übersehen werden.
Das Evangelium, das Jesus verkündete, war nicht nur für eine ausgewählte Gruppe bestimmt. Es war eine Botschaft der Hoffnung und der Liebe für alle Menschen. Er zeigte uns, wie wir durch unseren Glauben Barrieren überwinden und Brücken bauen können, um diejenigen zu erreichen, die sich am weitesten von Gott entfernt fühlen. Mit unserem Lebenszeugnis können wir deutlich machen, dass das Evangelium eine lebendige und verändernde Kraft ist, die das Herz des Einzelnen erreichen und Gemeinschaften transformieren kann. In der gespaltenen sozialen und politischen Landschaft von heute ist das notwendiger denn je! Wir können zeigen, dass die Kirche ein Ort der Hoffnung und Heilung ist, wo jeder willkommen ist und wo jeder die rettende Gnade Gottes erfahren kann.


Aufgerufen zum Handeln

Die Nachfolge Jesu ist ein Ruf, Türen zu öffnen statt Mauern zu errichten. Das ist eine Einladung, mutig und kreativ zu sein in der Art und Weise, wie wir das Evangelium leben und teilen. Es ist ein Ruf, die Liebe Gottes in einer Welt zu verkünden und zu leben, die sie so dringend braucht. Lassen wir uns von Jesus herausfordern, genauso radikal wie er zu sein – in unserer Liebe, in unserem Dienst und in unserer Mission, das Reich Gottes auf Erden zu bauen. Es ist Zeit, die Türen zu denen zu öffnen, von denen wir bisher getrennt waren, und Brücken der Liebe und der Hoffnung zu bauen, die uns zusammenbringen.

Autor

  • Keren Pickard

    Keren Pickard (Jg. 1977) ist Mut-Coach und Rednerin. Sie wohnt mit ihrer Familie in Bühl, Baden-Württemberg, und schreibt für diverse Medien. E-Mail: mehrwert@ kerenpickard.com

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