Tora für Christen?

Christus ist des Gesetzes Ende!“ Das verkündigen manche Christen im Brustton der Überzeugung und meinen, die fünf Bücher Mose, also die Tora der Juden, hinter sich gelassen zu haben. Aber ist das richtig? Die folgenden Ausführungen sind meinem Buch „Das Israel-Projekt“* entnommen. Sie sind leicht angepasst worden und gehen dieser Frage nach.

Paulus wollte die Tora nicht abschaffen

Tora meint von der Wortbedeutung her Weisung Gottes, Orientierung. Tora ist mehr als ein Gesetz, auch wenn sich die Übersetzung mit „Gesetz“ kaum vermeiden lässt. Im Judentum ist die Tora des Mose maßgeblich, manchmal wird aber auch das gesamte Alte Testament als Tora bezeichnet. Sachlich ist Tora überall dort zu finden, wo Gottes Weisung, wie man leben soll, zum Ausdruck kommt. Der Mensch braucht Orientierung, sonst geht er in die Irre. Dazu ist die Tora da.

Anders Luther. Das Gesetz, wie Luther es versteht, überführt den Menschen seiner Sünden und nagelt ihn auf sie fest: „Du bist ein Sünder!“, ist die Anklage. Das Gesetz ist zugleich der Maßstab im Jüngsten Gericht. Es verurteilt den Sünder zum ewigen Tod und führt direkt in die Hölle. Daran verzweifelt Luther, bis er das Evangelium entdeckt. Die gute Nachricht lautet: Von dieser Verurteilung und Verdammnis durch das Gesetz sind wir durch Christus befreit (Röm 6-8). Die „vernichtende“ Funktion des Gesetzes betrifft Christen nicht mehr, da hat Luther Recht. Aber das ist längst nicht alles, was über die Tora zu sagen ist.
Für Juden ist die Tora seit jeher Ausdruck der Liebe Gottes. Sie bewahrt Israel davor, sich in all den Sünden der heidnischen Welt zu verlieren, und hilft, immer tiefer in den Willen Gottes hineinzufinden. Deshalb empfinden es die Juden als Privileg, die Tora empfangen zu haben (vgl. Ps 119). Ein Zeichen
dafür ist das Fest Simchat Tora (Freude an der Tora), das die Juden jedes Jahr feiern.
Es ist also Unsinn zu meinen, Paulus wolle die Tora abschaffen. Das ist für ihn undenkbar. Aber die Tora wird bei ihm in größere Zusammenhänge gestellt. Sie wird einerseits mit Glauben und Liebe verbunden, andererseits mit dem Messias Jesus und dem Heiligen Geist. Schauen wir uns das an.

Gelebte Weisung Gottes

Wichtig ist zunächst: Nicht die Tora ist das Problem des Menschen, sondern die Sünde (Röm 7,7-17). Durch Jesus wird Paulus klar, dass die Tora das Problem der Sünde nicht löst. Man kann sich mit der Tora beschäftigen, so viel man will – die Sünde bleibt im Herzen. Jesus aber hat die Sünde überwunden – das ist die gute Nachricht! Insofern sind durch Jesus die Voraussetzungen geschaffen, die Tora vollständig zu leben.
Für Paulus ist und bleibt die Tora etwas Positives: Sie ist geistlich, sie ist heilig, sie ist gerecht und sie ist gut (Röm 7,12.14). Das sagt Paulus als Apostel Jesu. Ist das nicht interessant? Paulus kann diesen Gedanken weiterführen und sagen, dass es die Liebe ist, die das Gesetz erfüllt (Röm 13,8; Gal 5,14). Diese Wahrheit ist in zwei Richtungen zu lesen:

  1. Ohne Liebe fehlt dem Tora-Gehorsam etwas Entscheidendes. Das müssen die Pharisäer lernen.
  2. Ohne Tora fehlt der Liebe die Richtung. Liebe ersetzt nicht ethische Maßstäbe. Das müssen die Gläubigen aus den Völkern lernen.

Paulus lehrt die Heiden beides: Dass sie Jesus brauchen und wie sie die Tora im Alltag leben können. Paulus hat dafür sogar ein Wort geprägt: Glaubensgehorsam (Röm 1,5; 16,26). Glaube und Gehorsam gehören für Paulus zusammen wie Liebe und Gehorsam. Glaube und Liebe führen zum Gehorsam und damit zur Tora. Wer glaubt und wer liebt, der wird auch Gottes Gebote halten und nicht „sein eigenes Ding machen“.

Das Powerpaket Gottes: Tora, Messias und Heiliger Geist

Allerdings muss hier eine Einschränkung gemacht werden: Nicht alle Gebote gelten für die Gläubigen aus den Völkern, sondern nur die Gebote, die ethischmoralischen Charakter haben. Das Zeremonialgesetz (Opfer, Tempelkult, Reinheitsvorschriften) hingegen betrifft uns nicht. Das wurde auf dem Apostelkonzil beschlossen (Apg 15). Schon die Propheten treffen diese Unterscheidung (z.B. Hos 6,6) und offenbaren Gottes Prioritäten. Klar ist: Ein moralisch reines Leben ist Gott wichtiger als ein rituell perfektes – schon im Alten Testament.
Das entspricht dem neuen Bund, den Gott in Jeremia 31,31-34 ankündigt. Gott verheißt: „Ich werde ihr Denken mit meinem Gesetz (Tora!) füllen und es in ihr Herz schreiben. Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein“ (Jer 31,33). Neue Herzen durch das Hineinschreiben der Tora. Das verheißt Gott zunächst Israel und dann auch den Nationen. Gemeint ist natürlich die Tora in ihrer ethischmoralischen Ausrichtung. Sie verwandelt die Herzen.
Dieser neue Bund ist zugleich ein zentrales Thema des Neuen Testaments. Durch Jesus wird der neue Bund ins Leben gerufen (Lk 22,20). Konkret umgesetzt wird er aber durch den Heiligen Geist (Hes 36,26; 2 Kor 3,6). Denn der Heilige Geist ist es, der die Herzen verändert – bei Juden wie bei Nichtjuden. Wenn nun Menschen aus den Nationen zum Glauben an Jesus kommen, dann werden sie durch Jesus von der Sünde befreit, empfangen den Heiligen Geist und erleben, wie die jüdische Tora des Mose in ihre Herzen eingraviert wird. So verwandelt der Wille Gottes ihre Herzen mehr und mehr.
An dieser Stelle lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf die eingangs erwähnte Aussage zu werfen: „Christus ist des Gesetzes Ende!“ Dieser Satz steht in Römer 10,4, ist aber so nicht richtig übersetzt. Das griechische Wort für Ende (télos) heißt eigentlich Ziel. Oder Endziel. Richtiger wäre: „Das Endziel der Tora ist Christus.“
Das macht Sinn und entspricht Galater 3,24: Das letzte und tiefste Ziel der Tora ist es, auf Christus hinzuweisen. Denn Christus macht den Menschen gerecht. Gerechte Menschen wiederum führen ein Leben, das Gott gefällt und der Tora entspricht. Letztlich wird die Tora im Glauben an Christus gelebt – und darauf kommt es an (Röm 8,4).
Dieser Weg führt zu einer tiefen inneren Freude: der Freude, mit Gott und seinem Willen im Einklang zu sein. Diese Freude ist unüberbietbar.

Autor

  • Dr. Tobias Krämer ist Theologe, Akademieleiter und Gemeindeberater. Bei Christen an der Seite Israel (CSI) leitet er den Bereich "Theologie und Gemeinde". Unlängst verfasste er das hochaktuelle Buch "Das Israel-Projekt: Warum Israel für deinen persönlichen Glauben relevant ist (Israel neu entdecken)".

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