Progressives Christentum

EIN GEISTLICHER TSUNAMI ERSCHÜTTERT DIE EVANGELIKALEN IM WESTEN

Virenstämme mutieren und tauchen in neuer Form wieder auf. Im Folgenden beschreibt Dr. Andreas Franz diesen neuen alten Virus, der den Gemeindeleib in Teilen schon befallen hat. Er nennt Ursachen und Symptome, aber auch die Therapie und wie eine Immunisierung gefördert werden kann.

Biblische Begriffe mit falscher Füllung

„Wir wollen mündige Christen werden!“ Welcher Pastor freut sich nicht, wenn die Gemeinde mit diesem Wunsch an ihn herantritt. Er stellt sich wahrscheinlich vor, dass die Mitglieder lernen möchten, den Willen Gottes besser zu erkennen, mehr Menschen für Jesus zu gewinnen, die Geistesgaben wirksamer einzusetzen, also geistlich zu reifen.
Doch bei genauerem Nachfragen stellt er fest, dass es um den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) geht, also um den aufklärerischen Zweifel, der den bisherigen Glauben infrage stellen will. Seine Überraschung wird umso größer, wenn er plötzlich hört: „Wozu Gemeinde? Jesus wollte, dass wir in die Welt hineinwirken.“ Oder: „Wenn wir das Leben Jesu (als Vorbild) haben, wozu brauchen wir dann noch seinen (Opfer-)Tod?“
Spätestens jetzt realisiert der Leiter, dass in seiner Gemeinde Gedankengut Eingang gefunden hat, das schon seit etwa 200 Jahren die westliche evangelische Theologie prägt. Er ist überrascht, denn bisher war die Bibel die Norm für Lehre und Leben in der Gemeinde. Die Erlösung durch Jesu Sühnetod war die zentrale Botschaft. Ganz anders sieht es die sogenannte progressive Theologie.


Zweifeln als neuestes Modell

Zweifeln am überlieferten Glauben ist das neue Paradigma und für das postevangelikale Christentum geradezu identitätsstiftend. Der bisherige Glaube gilt nun als ausgrenzend und verurteilend. Biblische (Sexual-)Ethik ist lieblos und richtend. Diese neue Frömmigkeit meint zu wissen, was zeitgemäß ist.
Ehemals hingegebene Mitarbeiter beginnen, bisherige Kernelemente des Glaubens radikal zu hinterfragen („dekonstruieren“). Sie fragen: Wozu braucht Gott ein Opfer? Ist Jesus wirklich leiblich auferstanden? Ist biblische Sexualethik noch zeitgemäß? Was soll der Absolutheitsanspruch Jesu?

Intoleranz ist die eigentliche Sünde

Sie beginnen, mit der postmodernen Konstruktion ihres „neuen“ Glaubens. Nicht Unglaube, sondern Intoleranz ist ab jetzt die eigentliche Sünde. Wahrheit gibt es nur noch im Plural, gerade auch im Hinblick auf andere Religionen. Gottes Liebe schließt alle Menschen ein und kennt kein Endgericht. Daher sollen Christen in die Welt hineinwirken und nicht aus der Welt herausretten. Sie sehen dies als Befreiung vom alten „Dogmatismus“.
All das ist nicht wirklich neu. Hier findet der alte theologische Liberalismus Eingang in die evangelikale Welt. Bei aller Unterschiedlichkeit sind sich alle liberalen Strömungen in einem Punkt einig: Jesus wollte nie Gemeinde. Wer bei der Dekonstruktion seines Glaubens diesen Punkt erreicht, wird die Gemeinde wahrscheinlich verlassen.


Ermutigendes


Inzwischen gibt es aber auch positive Berichte. Menschen erzählen, dass sie plötzlich die zerstörende Kraft der Dekonstruktion erkannten und sich davon lossagten. Sie wandten sich wieder intensiv der Bibel und dem Gebet zu. Jesu Sühnetod ist eben nicht eine spätere Deutung der durch die Kreuzigung Jesu traumatisierten Jünger. Die Gründung christlicher Gemeinden ist nicht eine nachträgliche Idee des Apostels Paulus. Sie bezeugen, dass Gott weiterhin übernatürlich in die Welt hineinwirkt, indem er Menschen von Sünde erlöst, Kranke heilt und von dämonischer Belastung befreit.
Wer das persönlich erlebt (hat), ist für liberales Gedankengut schwerer zugänglich. Wohl auch deshalb blieben pfingstlich-charismatische Gemeinden von diesem geistlichen Tsunami, der die westlichen Evangelikalen erschüttert, bisher weitgehend verschont.

Wachsam bleiben

Doch auch charismatische Gemeinden sollten sich nicht in falscher Sicherheit wiegen und diese westlichen „Lehren dämonischer Geister“ (1. Tim 4,1) nicht unterschätzen. Denn die sog. progressive Theologie präsentiert sich als „reifer“ Glaube, basierend auf Wissenschaftlichkeit und intellektueller Überlegenheit. Doch sie übersieht, dass sich Aufklärung und Humanismus zwar überlegen wähnen, aber der übrigen nichtwestlichen Welt fremd sind. Ihre falsche Frömmigkeit präsentiert sich zwar als weltzugewandt und menschenfreundlich, entspricht aber eben nicht mehr dem offenbarten Willen Gottes, wie wir ihn in der Schrift finden. Stattdessen steht der Mensch jetzt im Mittelpunkt. Progressive Theologie verspricht, das Christentum gesellschaftlich anschlussfähig zu machen. Doch sie übersieht, dass weder Jesus noch seine Nachfolger gesellschaftliche Akzeptanz suchten.


Ursachen der Verführung und Vorbeugung

Aber warum vollziehen manche Christen diesen gravierenden theologischen Vorzeichenwechsel? Die Ursachen sind verschieden. Allzu oft werden Gesetzlichkeit, Denkverbote oder gar Machtmissbrauch in Gemeinden genannt. Daneben gibt es aber auch persönliche Gründe, die dem Zeitgeist geschuldet sind: Selbstverwirklichung statt Selbstverleugnung, ethische Anpassung statt Konfrontation und die Suche nach persönlicher Bedeutung.

Wie können wir dieser Entwicklung vorbeugen?

  • Keine Denkverbote in Gemeinden: Ehrliche Glaubenszweifel sind noch keine Sünde und sollten zugelassen und begleitet werden.
  • Jesu Weltbild: Er lehrte Liebe und Endgericht, Diesseits und Jenseits, ewige Rettung und ewige Verdammnis.
  • Bibel lesen: Die Bibel muss neu als zuverlässiger Maßstab für Lehre und Leben betont und begründet werden.
  • Gnadengaben fördern: Zeichen und Wunder sind Teil der Königsherrschaft Jesu. Sie müssen erfahrbar und authentisch sein.
  • Absolutes Festhalten: Es bedarf der Unterscheidung, was nur zur Abfassungszeit relevant war und was zeitlos ist. Das Apostolische Glaubensbekenntnis nennt die zentralen Inhalte christlicher Lehre. Zeitlose Grundlagen der Ethik sind die Zehn Gebote, die Bergpredigt und die „Lasterkataloge“. Darüber hinaus kann sich jede Gemeinde ein eigenes Profil geben, wobei zweitrangige Fragen nicht zu zentralen gemacht werden sollten. Umgekehrt dürfen zentrale Fragen aber auch nicht nebensächlich werden.
  • Auftrag definieren: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind die Aufgaben aller Menschen, nicht nur der Christen. Doch nur Christen können den Auftrag Jesu umsetzen, alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen, indem sie taufen und dazu anleiten, alles zu tun, was Jesus geboten hat.

Autor

  • Andreas Franz

    Dr. Andreas Franz ist geschäftsführender Vorsitzende von Horizonte Weltweit e.V. und Studienleiter der Theologisch-Missionswissenschaftlichen Akademie (TheMA). Er ist verheiratet mit Marina. Gemeinsam haben sie drei erwachsene Kinder.

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